Abflug im Sturm

Am 5. Dezember 2013 betrete ich zum ersten Mal den Boden Südafrikas. Ich habe eigentlich sehr viel über die Erde hier zu sagen. Sie ist hellockerfarben, riecht nach trockenem Lehm und lässt sich nur schwer von weißen Sneakers putzen. Aber es ist dann doch erst einmal der heiße Asphalt des Rollfeldes, der mir schon am frühen Morgen eine leichte Hitze entgegenschleudert. In Berlin hat mein Flugzeug drei Stunden Verspätung gehabt - wegen eines fiesen Wintersturms. Auf dem Weg vom busy Start-Up am Rosenthaler Platz direkt zum Flughafen bin ich noch in eine knöcheltiefe Pfütze aus Eiswasser getreten. Berlin, Alter! Fluchen. Stress. Und dann: Diese Sonne! Ich habe ganz vergessen, dass es blauen Himmel geben kann. Die Wärme Südafrikas umarmt mich, plötzlich fühle ich mich frei und leicht. Es ist der Todestag Nelson Mandelas. 

An den Townships müssen alle vorbei

Meine frühen Eindrücke dieses so unsagbar faszinierenden Landes – ohne das Leben, Werk und Erbe des heldenhaften Freiheitskämpfers nicht vorstellbar. Nun bin ich also in Kapstadt gelandet. Noch habe ich keine Ahnung, wie sehr mich diese Reise verändern wird. An den Screens in der Flughafenhalle prangen überall die Nachrichten über Nelson Mandela. Nelson Mandelas Tod, natürlich. Aber auch Nelson Mandelas Leben, seine Familie, seine politischen Wegbegleiter. Mit dem Mietwagen (nicht einsehbarer Kofferraum, geschlossene Fenster, so wie es die Webseiten des Auslandsamtes eindringlich empfehlen) geht es in die Stadt, direkt vorbei an den Townships. Alle, die mit dem Flugzeug nach Kapstadt kommen, passieren zunächst einmal diesen Highway. Sie gehören dazu, Südafrika geht nicht ohne sie: Endlos reihen sie sich hier aneinander, die kleinen Häuschen mit den Wellblechdächern; Menschen laufen zu Fuß scheinbar unbekümmert über die Autobahn. Das sind also die Townships. Das ist also Armut. Und ich, safe, verhältnismäßig reich, im Mietwagen, fühle mich schuldig. Ich weiß nicht so recht, wo ich überhaupt hinschauen soll. Wie das Leben hinter den behelfsmäßigen Zäunen und auf den lehmsandigen Straßen aussieht, kenne ich nur aus Filmen, Reportagen, Dokus. 

Camps Bay: Schick in weiß

Endstation ist in Camps Bay. Das ist ein Ort, an dem ich gerne wohnen würde, zugegeben. Der kleine Vorort von Kapstadt liegt eng eingebettet zwischen tosendem Atlantik und der mystischen, manchmal nebelverhangenen, 12-Apostel-Bergkette. Es ist wahrhaft majestätisch. Wenn man an die Existenz von Erdchakren glauben mag: Das sind Energiezentren, die um unseren Planeten laufen. Am Kap der Guten Hoffnung laufen mehrere dieser Erdchakren zusammen. Vielleicht sind sie es, die dieser Region diese ganz besondere Dynamik geben. 

In Camps Bay jedenfalls bestimmen schicke weiße Häuser das architektonische Bild. Ein Ort für die Reichen. Weiße Poloshirts, große Autos. Beverly Hills, Monaco, oder Cote d’Azur? Der Strand von Camps Bay wird schließlich regelmäßig zu einem der schönsten Strände weltweit gekürt. Dann das: Eine Gruppe Schwarzer Menschen auf der Beachpromenade. Im Kreis aufgereiht, bewegen sie sich ritualhaft, rhythmisch. Sie tanzen und singen im Chor, laut, und lachen dabei. Ich staune. Das habe ich noch nicht gesehen. Wahrscheinlich starre ich sie an in der so typisch deutschen, ungenierten Manier. Mein Kumpel Alex, der hier aufgewachsen ist, sagt: “Die verabschieden Mandela.” “Achso.”

Wie kann man Südafrika begreifen?

Ich bin eigentlich hier, weil mich meine Freundin zu ihrer Hochzeit einlud. Quatsch, das ist ein Understatement. Ich bin ja sogar Trauzeugin! Die schönste Hochzeit, auf der ich jemals war: Das Venue ist typisch südafrikanisch mit rustikalem Chic – naturverbunden und earthy, gleichzeitig fehlt es den Gästen an nichts. Der Wind tost an diesem Tag. Die Serviceleute – in Südafrika sind sie fast alle Schwarz oder Coloured – halten die Zeltstangen fest, damit der Sturm sie nicht hinfort weht. Während wir – in der Überzahl Weiße – uns drinnen so richtig wohlig und gemütlich fühlen. Das frisch vermählte Ehepaar beschließt am Abend, alle Geldgeschenke an die Nelson-Mandela-Stiftung zu spenden. Laute Zustimmung der Gäste, ein paar klatschen. Schließlich war auch das Motto der beiden Verliebten Love & Freedom. Noch ein paar Tage Strandhaus. Dann tauche ich ab in die Backpackerszene Kapstadts. Immernoch gibt es Trauerfeiern für Nelson Mandela oder Gebete auf den Straßen, so wie ich sie an meinem ersten Tag gesehen habe. Klein und spontan, zum Beispiel im De Waal Park

Drei Straßenmusiker spielen Musik. Ein lachender Mann schaut ihnen zu.
Straßenmusiker auf der Long Street

Es gibt aber auch eine große Bühne an der Victoria & Alfred Waterfront. Hier wird gesungen, christliche Gebete gesprochen. Alle sitzen gemeinsam. Touristen, Einheimische, Arme, Reiche. Es ist kein subtiler Gegensatz, der nur ins Auge fällt, wenn man darauf achtet. Es ist der Alltag der extremen Gegensätze, den die Südafrikaner jeden Tag leben. Der in gewisser Weise zynisch sein könnte: Schließlich waren es die Kolonialmächte, die das hiesige Hafenbecken nach der britischen Königin Victoria und nach dem britischen König Alfred benannt haben. Genau gegen diese Kolonialmächte hat Nelson Mandela doch gekämpft! Und nun wird er hier verabschiedet? 

Ich sagte, all das könnte zynisch sein. Aber die Trauer ist echt. Und wer die Südafrikaner nur ein bisschen kennt, weiß: Selbst in der größten Trauer geht die Fröhlichkeit nie wirklich verloren bei diesen Menschen. Der unfassbare Gegensatz der Dinge. Wie kann ein Land und seine Menschen so schön und frei und atemberaubend und ehrlich und witzig sein – und gleichzeitig so grausam, schwer, skrupellos, arm, korruptiv?

Schreiben über Südafrika

Auch dieser Artikel wird der Aufgabe nicht gerecht werden können, dieses Spannungsfeld vollumfänglich zu erfassen. Es ist derweil auch fast eine undankbare Aufgabe. Afrika, das sind in Erzählungen oft die drei Ks: Kriege, Krankheiten und Katastrophen. Diese Erzählungen klammern das ganz normale Südafrika aus. Das morgens zur Arbeit fahren, das Treffen mit Freunden im Pub, Surfen oder Hiken gehen am Wochenende. Auch meine eigene große Liebesgeschichte vermag manchmal bei all den gesellschaftlichen Fragen oft unterzugehen. Es ist indes für mich als weiße, außenstehende Europäerin immer wieder auch ein Privileg, das ich mir herausnehme, wenn ich versuche, Südafrika einzuordnen. Über Südafrika zu schreiben darf nie ohne Scham und Schuld in mir passieren, denn bin ich doch Teil der westlichen Länder, die ihren materiellen Reichtum auf dem Leid eines ganzen Kontinents gebaut haben. Die in ihrer Geschichte auch einen Platz an der Sonne wollten und in ekelhafter Manier meinten, sich ihn einfach nehmen zu können.

Mein Auge fokussiert sich fürs Artikelschreiben und Fotografieren normalerweise auf Subkulturen, einzelne Menschen und kleine Szenen. Das ist eine glückliche Fügung, denn so bleibe ich in meiner Berichterstattung weit weg von üblichen Stereotypen. Jetzt stelle ich mich der Frage, die mir alle immer zuerst stellen, wenn ich von Südafrika erzähle. Wie ist das denn dort, mit der ganzen Armut und der Kriminalität und all dem? 

Mit meinem Mann JP habe ich eine angeheiratete Familie in Johannesburg. Und Freunde. Es fällt mir ungemein schwer, auf diese Frage eine Antwort zu geben, die den Menschen, die mir ans Herz gewachsen sind, wirklich gerecht wird. Gleichzeitig bin ich jetzt seit zehn Jahren mit Südafrika verbunden. Es ist vielleicht Zeit, mich dieser Frage einmal zu stellen. Südafrika ist das Land für Viele: Blacks, Whites, Zulus, Coloured, Xhosa. Aber es ist nicht das Land der Gleichheit und Freiheit. Vermutlich ist gerade deshalb der größte Held der Nation ein Mann, der sein Leben genau diesen Werten widmete. In Zeiten größter Unfreiheit war Nelson Mandela am freiesten. 

Zwei Menschen laufen entlang einer Häuserreihe durch Kapstadt.
Observatory

Nachtwache

Zurück ins Jahr 2013. Ich wohne zunächst einmal in Observatory. Obs ist so etwas wie das Kreuzberg Kapstadts: Hip, abgewrackt und cool. Hier gibt es Shishabars, ein paar Clubs, Backpackers, Stand-Up Comedy. Im Hostel essen wir alle zusammen Sushi und besprechen neben den großen Lebensfragen auch die Sicherheit. Du kannst hier auch alleine zum Einkaufen laufen, sagt mir John, der schon etwas länger hier ist. Was kann ich alleine unternehmen, was besser nur in der Gruppe? Sicherheit ist in Südafrika Thema Nummer eins. Beinahe jedes Haus hat eine hohe Mauer mit Elektrozaun. Viele Haushalte haben einen Panic-Button, mit dem sie die Security-Firma bei Verdacht auf Einbrecher alarmieren. Das ist nur ein Teil des massiven Sicherheitskonzepts, das im Alltag Südafrika dazugehört wie morgens das Zähneputzen. Hier im Hostel gibt es auch eine Gruppe Schwarzer Jugendlicher. Tagsüber spielen sie hier Tischtennis – gleichzeitig sind sie auch für die Sicherheit zuständig. Nachts sitzt immer einer von ihnen im Wohnzimmer des Hostels und schaut Filme. Nachtwache. Ich fühle mich auf eine beklemmende Weise sehr sicher und geborgen.

Zwei modisch gekleidete junge Frauen posieren für ein Foto. Im Hintergrund ein hoher Zaun mit Stacheldraht.
Hier in Kapstadt 2013 mache ich auch die ersten Gehversuche in analoger Street Photography.

Waxprint

Eine der Putzfrauen im Hostel verkauft nebenbei selbstgenähte Geldbeutel. Freudig breitet sie sie vor mir aus. Die typischen Afrika-Muster, die die Straßen hier so bunt und aufregend machen: Waxprint wurde ursprünglich von den niederländischen Kolonialisten eingeführt und dann von den Einheimischen übernommen. Eine tolle Tatsache, die Stoff nicht nur für Geldbeutel und bunte Kleider, sondern auch für die Diskussion rund um kulturelle Aneignung bietet. Darf man Wax Print in westliche Mode integrieren? Sollen moderne Menschen in Südafrika den Waxprint mit viel mehr Stolz tragen?

Da liegen sie also vor mir, die Geldbeutel. Grün-gelb gemustert, einfarbig rotbraun und einer davon: blau mit dem Antlitz Nelson Mandelas. Ich mag eigentlich den grün-gelben am liebsten. Doch Tim, der Barkeeper, grinst mich liebevoll an, blickt zur Putzfrau und sagt leise: “Nimm Nelson Mandela, das wird sie freuen.” Und erst in diesem Moment begreife ich… ja, was eigentlich?

Spielball der neoliberalen Mächte?

Aber wer war Nelson Mandela überhaupt? Klar, sein Name sagt mir was. Ich kenne die groben Umrisse der Geschichte Südafrikas. Das erscheint mir in diesen Tagen aber nicht genug. Ich fange an, Fragen zu stellen.

Nelson Mandela wird in Südafrika verehrt. Aber natürlich gibt es auch die anderen Stimmen. Sie sind in den Tagen der Trauer vielleicht nicht so laut wie sonst. 

Mandela, so einige Kritisierende, sei Spielball der neoliberalen, weißen Kräfte gewesen. Seine Politik der Versöhnung zu zahm. Es ist von den ersten Momenten an offensichtlich: Vielleicht sind die Menschen hier im Geiste auf irgendeine Weise vereint. Es ist vielleicht das fröhliche “How-iss-it-Bru”, das die Leute sich hier gegenseitig auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt zurufen. Aber auch heute noch herrscht in Südafrika mindestens ökonomische Apartheid. Das Land ist das ungleichste Land der Welt. 

Der ANC war Mandelas Partei und ist die heute noch regierende Partei. Die Versprechen von Gleichheit und Freiheit konnte er bis heute nicht umsetzen. Korruption steht an der Tagesordnung. Manche Stimmen meinen deshalb, Mandela hätte radikaler sein sollen, sich nicht auf gut Freund zu den Weißen herablassen und mehr für die Rechte der Schwarzen kämpfen müssen. 

Soweto Uprising

Auf der anderen Seite, vormals von konservativen Weißen, wird Mandela die Gewalt seines Widerstands vorgeworfen. Um diesen Vorwurf einzuordnen, muss man sich das einmal kurz vorstellen. Das Ende der Apartheid 1990 war nicht etwa eine friedliche Revolution wie der Fall der Berliner Mauer, der übrigens die Entwicklungen in Südafrika schon ein bisschen begünstigte.

Die Aufstände in Südafrika waren blutig. Es ging um Leben und Tod. So etwa beim Soweto-Uprising: Im Jahr 1976 rebellierten Schüler in Soweto (ein Vorort Johannesburgs) gegen Pläne der Apartheid-Regierung, eine minderwertige Ausbildung für die Schwarze Bevölkerung durchzusetzen. Die Proteste wurden niedergeschlagen: Etwa 176 Schüler*innen starben. Es gibt aber auch Schätzungen, nach denen bis zu 700 Schüler*innen bei den Protesten ihr Leben lassen mussten. Da ist das ikonische Foto, auf dem ein Junge in Latzhose einen verwundeten Schüler trägt, daneben eine schreiende Schülerin – später wird sich herausstellen, der Mitschüler ist tot. Muss man mehr zu der Schwere dieser Zeit sagen? Kann man Aktivist*innen hier Gewalt vorwerfen, wenn sie sich gegen diese Form der Unterdrückung zur Wehr setzen?

Nelson Mandela - Ein Held, aber kein Heiliger

Zum Zeitpunkt des Soweto Uprising hat Nelson Mandela seinen Kurs des friedlichen Widerstandes schon lange geändert. Er tritt dafür ein, gewaltvollen Aktivismus zu betreiben. Das Massaker von Sharpeville im Jahr 1960, bei dem 69 Demonstrierende erschossen wurden, gilt als der Wendepunkt in Mandelas Biografie und seiner Einstellung zu Gewalt. Bereits 1963 wurde Mandela verhaftet. 27 Jahre war er in Gefangenschaft, 18 Jahre davon auf der Gefängnisinsel Robben Island, direkt vor Kapstadt. Die Umrisse der Insel sind bei fast jedem Blick aufs Meer zu sehen. Auch bei der Trauerfeier für Nelson Mandela an der V&A-Waterfront habe ich sie im Blickfeld. Von hier fahren die Fähren zur Insel, um Interessierten von den unvorstellbar schlimmen Haftbedingungen zu erzählen, unter denen Mandela und andere Aktivisten zu der Zeit gelitten haben.

 

Ein Mann mit Hut hinter seinem Stand auf dem Flohmarkt. Er verkauft Schallplatten.
Flohmarkt im De Waal Park

Symbolische und oberflächliche Versöhnung

Man muss sich aber nicht nur die Schwere der Zeit vor Augen führen. Die elende Unterdrückung, die blutigen Aufstände, den Aktivismus im Untergrund. Sondern auch die Schwere der Versöhnung. Noch während ich dies tippe, läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken, Gänsehaut. Eine so große Geste – wie ist es möglich, so viel Gewalt zu verzeihen? Nelson Mandela, als erster Schwarzer Präsident Südafrikas, hatte ein Land zu vereinen. Wie macht man so etwas eigentlich?                                                                         

Mandela übte sich nicht nur in versöhnlicher Sprache. Er beherrschte auch die Macht der Symbole. Zur Rugby-Weltmeisterschaft trug er das vormals mit den Weißen in Verbindung gebrachte, dunkelgrüne Trikot der Springboks. Es gibt heute sogar einen Film darüber. Mandela ging aber weiter, und zwar bis nach Orania. Die Siedler-Stadt ist das Gegenstück zu allem, wofür Mandela jemals kämpfte – ein abgeriegelter Wohnort nur für Weiße, die ihr Leben danach ausrichten, die Kultur der Apartheid zu konservieren. Sie wurde errichtet unter anderem von Henrik Voerword, Vordenker des Apartheidregimes, um den weißen Traum zu leben. Und 1995 ging nun also Mandela nach Orania, um mit Akteurinnen und Akteuren des alten Apartheidregimes das Gespräch zu suchen. Versöhnung radikal zu Ende gedacht. “We shed no tears for Mandela. He is a fallen opponent”, sagt der Präsident von Orania zu Nelson Mandelas Tod im Jahr 2013. Auf Versöhnung von seiten der Apartheidsakteure konnte Mandela bis zu seinem Tod warten, unüberraschend grausam fällt doch ihr Statement über seinen Tod aus: "Wir vergießen für Mandela keine Tränen. Er ist ein gefallener Gegner."

                                                                                                                                                          

Mandelas Kurs war nicht nur eine symbolische Versöhnung. Auf politischer Ebene unterstützte er aktiv die Gründung der TRC (Truth and Reconciliation Commission), die Wahrheits- und Versöhnungskommission. Die TRC war eine einzigartige Institution, die sich darauf konzentrierte, die Wahrheit über Menschenrechtsverletzungen während der Zeit der Apartheid aufzudecken. Sie gab Opfern eine Plattform, um ihre Geschichten zu erzählen. Täter hatten die Möglichkeit, vor der Kommission Rechenschaft abzulegen und Amnestie zu beantragen. Historikerin Gesine Krüger bringt auf den Punkt, was an der TRC problematisch war: Die Untersuchung  beschränkte sich nur auf schwere Menschenrechtsverletzungen. So blendete sie den systemischen Charakter der Apartheid aus – das verursachte Leid musste weiterhin auf dem Rücken von Individuen ausgetragen werden (Einsame Heldin, Zum Tod von Winnie Mandela, Geschichte der Gegenwart). Ich würde Mandelas Versöhnung daher zwar einerseits als krasse, bewundernswerte Haltung bezeichnen, die gleichzeitig jedoch eher oberflächlichen und symbolischen Charakter hatte.

Alle Augen auf Winnie Mandela: Das Gegenstück zu Nelson Mandela?

Es ist indes nur folgerichtig, so Gesine Krüger, dass Nelson Mandelas Frau Winnie Madikizela-Mandela die passendere Heldin für das heutige Südafrika ist. Trat sie doch stetig und mit voller Inbrunst für die Rechte der Schwarzen ein. Man muss hier freilich etwas vorsichtig sein mit dem Bild, das gerne einmal über die beiden Mandelas gezeichnet wird. Auf der einen Seite ist da Nelson Mandela, dem sein friedvoller Ansatz zum Markenzeichen wurde. Als Gegenstück zu Nelson Mandela wird oft Winnie Mandela herangezogen. Selbst Opfer von Misshandlungen und zahlreichen Verhaftungen, wurde sie nicht müde, die TRC zu kritisieren. Auch Winnie Mandela war keine Heilige. Ihre Verwicklung in den Mord eines Aktivisten, der als Apartheid-Informant verdächtigt wurde, ist vermutlich das krasseste Vergehen, wegen dessen sie schuldig gesprochen wurde. Mehr zu einem differenzierten und aktuellem Bild aus feministischer Perspektive lässt sich nachlesen im Artikel Winne Mandela and the historians von Meghan Healy Clancy und Jill E. Kelly bei Africa is a Country

Gerade als Frau – die ja nochmal ganz anders unter der Apartheid gelitten hat und die es noch viel mehr als Nelson Mandela verinnerlicht hat, außerhalb des patriarchalen Systems zu stehen – ist es nur logisch, dass Winnie Mandela nicht denselben Kurs der Versöhnung fahren konnte. War doch auch etwa das TRC eine Geburt des neuen, zwar freien aber doch eben patriarchalen Systems.  

Loadshedding: Wenn das Krankenhaus keinen Strom mehr hat

Der heutige ANC ist in seiner Mission der Gleichheit und Freiheit für Südafrika gescheitert. Das erzählen mir in Südafrika eigentlich alle Menschen: arm, reich, schwarz, coloured - you get it. Loadshedding nennt es sich, wenn regelmäßig der Strom ausgeschaltet wird, weil das Stromnetz überlastet ist. Die Folgen für die Infrastruktur sind immens. Winnie Mandela ordnet das Scheitern des ANC in ihrem letzten Interview vor ihrem Tod am 2. April 2018 ein: Südafrika sei ein Land mit blutiger Vergangenheit – vor diesem Hintergrund sei das, was bereits erreicht wurde, trotzdem eine Errungenschaft. 

Verwischtes schwarz-weiss-Foto: Zwei Menschen laufen über einen Gehweg in Kapstadt.
In Green Point, auf dem Weg zur V&A Waterfront

Ich finde, hier lohnt sich noch einmal der Vergleich mit dem Fall der Berliner Mauer – wie das Ende der Apartheid fällt auch der Eiserne Vorhang in die frühen 1990er Jahre. Heute, im Deutschland des Jahres 2023 wird uns mit Blick auf den Aufstieg der antidemokratischen Afd spätestens und auf bundesweiter Ebene bewusst, wie grandios ein Land scheitern kann im Versuch, eine schwierige Vergangenheit hinter sich zu lassen. Auch hier in Deutschland haben sich die Fronten seither verschärft statt geglättet, auch wir nehmen die Ungleichheit wieder viel stärker wahr. Die Wahl Donald Trumps, die Pandemie und eine Verschiebung der Mächte (China, Russland, USA, EU), die Hinwendung zu Erzkonservativem, Patriarchalem und Neoliberalem machen es geradezu notwendig, mit deutlichen Worten zu antworten – hin zu Progressivem, Feministischem und Sozialem. Ich finde, eins der eindrücklichsten Zitate von Winnie Mandela ist dieses: “I am the product of the masses of my country and the product of my enemy.” Ich bin das Ergebnis der Vielen meines Landes und das Ergebnis meines Feindes.

Südafrikanischer Boden

Der profane Moment mit dem Geldbeutel lässt sich vielleicht auch nicht nur über Nelson Mandela erklären, sondern gerade mit seiner Frau Winnie Madikizela-Mandela. So wie sie sich als Teil des Ganzen sieht, haben die Mandelas es auch vermocht, in diesem profanem Moment mit dem Geldbeutel, auch mich mit südafrikanischem Boden zu verbinden. Und erst jetzt, zehn Jahre nach diesem Tag, wo ich mir endlich mal die Zeit genommen habe, ein bisschen mehr über Winnie Mandela zu recherchieren, fügt sich für mich dieses Bild zusammen. Im Jahr 2023 geht es nun wirklich nicht mehr ohne die Frauen! 

Der Nelson-Mandela-Geldbeutel liegt aber auch heute noch in meiner Schatzkiste. Zusammen mit ein paar losen Fotos von einem Strandtag in Camps Bay: Es war das erste Date mit meinem heutigen Mann JP, nur ein paar Wochen nach meinen ersten und so beeindruckenden Tagen in Südafrika.

July 25, 2023