Ich kann das nicht, mach du mal – Strategische Inkompetenz

Frohes Neues – für Geschenkeeinpackerinnen, Plätzchenbäckerinnen & Co.

Die Feiertage sind vorbei – die Bäuche sind gefüllt, hoffentlich sind wir alle reich beschenkt und glücklich mit vielen guten Vorsätzen im Neuen Jahr angekommen. Aber bei all den Plätzchen und anderen Leckereien bleibt mir ein bitterer Nachgeschmack. Es ist die Mental Load und ihr nerviger, sexistisch-witzelnder Onkel: die strukturelle Inkompetenz. Bereits im Oktober 2021 trendete der Hashtag strategic incompetence auf TikTok mit über 15.6 Millionen Views.

Auch in diesem Jahr lief der Hashtag wieder heiß, pünkltich zur Vorweihnachtszeit. So thematisiert unter anderem auch ein Weihnachtsvideo auf Instagram die strukturelle Inkompetenz. Es zeigt, wie die älteste Tochter einer Familie Weihnachtsgeschenke für Mama einpackt, während Daddy auf der Couch hockt und an seinem Handy daddelt. Nunja. Neues ist leider nichts daran, dass viele Väter sich nicht einbringen. Mental Load ist kein neuer Schuh. Wasserdicht wie meine neuen Wanderschuhe, die unterm Tannenbaum lagen, wird aber der Blick auf die Mental Load, wenn wir das Phänomen der strategischen Inkompetenz einmal genauer anschauen.

Ausschnitt aus einem Instagram Video: Ein Mädchen packt ein Weihnachtsgeschenk ein.
Die älteste Tochter beim Geschenkeeinpacken

Auch im besagten Weihnachtsvideo können wir die strategische Inkompetenz schon von Weitem riechen. Wir kennen die Dimensionen; wir wissen, was vor dem Video passiert.

Daddy sagte es mal so daher: Ich weiß ja gar nicht, was deine Mutter sich wünscht. Die älteste Tochter dagegen kennt die Wünsche der Mutter, denn ihr fällt die Rolle der Unterstützerin zu. Sie ist es, die der Mutter in Haushalt und Care-Arbeit hilft. Ach, ich weiß gar nicht, wie man Geschenke einpackt, sagt dann Daddy. Wenn denn wirklich noch jemand von ihm verlangen würde, das Geschenk auch noch einzupacken! Und voilà, die Tochter, herangezogen zur zweiten Mama, packt das Geschenk für Daddy ein – Daddy hat Zeit für sich, dank strategisch proklamierter Erklärung: Ich kann das nicht (weil ich ein Mann bin). Mach du mal, du kannst das besser (weil du eine Frau bist).

Strategische Inkompetenz ist also eine Methode, Arbeit und Verantwortung von sich zu weisen. So türmt sich eine weitere Aufgabe auf die Last des Partners – im Privatleben meistens eben die der Frau.

Schön dich wiederzusehen, Mental Load!

Die Strukturen des Patriarchats und dessen Methoden haben wir uns ja alle mehr oder weniger angeeignet. Wir sind alle Teil des Systems. Deshalb ist es verdammt gut, wenn wir diese Strukturen analysieren und benennen können. Aus einem Gefängnis kommt man erst raus, wenn man die Gitterstäbe sieht. Und wer unschuldig ist, werfe den ersten Stein.

Oder wir nehmen mal den Stein in die Hand und reichen ihn reihum. Wir können uns selbst einmal überlegen, wann wir strategische Inkompetenz genutzt haben, um aus einer Aufgabe oder einer Sache möglichst bequem rauszukommen. Ich mache das gewöhnlich immer dann, wenn unser Drucker streikt. Darling, the printer is not working – das ist alles, was ich sagen muss. Mein Lieblingsmensch springt auf, schlägt sich zur Not den ganzen Tag mit dem störrischen Drucker rum, bis er am Ende wieder fleißig die Texte ausspuckt. Viele Texte lese ich nämlich ganz altmodisch ausgedruckt Korrektur, mit Lineal und Bleistift in der Hand. Und dann sage ich: Well, you are really the computer expert in our family! Um mich am Ende zu bedanken – und um mich selbst ein bisschen weniger schlecht zu fühlen. Weil ich den Drucker eigentlich auch selbst zum Laufen bringen kann.

2022 ist das Jahr der Strategischen Inkompetenz

Warum jetzt im Neuen Jahr nochmal auf strategische Inkompetenz schauen? Die strategische Inkompetenz wird uns auch in diesem Jahr begegnen, so wie wir unseren nervigen Witze-Onkel zwangsweise wieder treffen – spätestens dann wieder zu Weihnachten. Man könnte aber auch soweit gehen und sagen: 2022 war das Jahr der strategischen Inkompetenz überhaupt.

Zumindest im deutschsprachigen Raum hat der Begriff in den letzten 12 Monaten deutlich Einzug gefunden. Nicht nur der Hashtag lief heiß. Die Googlesuche für 2021 fällt noch ziemlich mau aus – lediglich zwei Treffer auf der ersten Seite (einer davon ausgerechnet auf rtl.de!). 2022 sieht es dann schon ganz anders aus.

So teasert etwa die Brigitte im Juli 2022:

“Mit strategischer Inkompetenz vermeiden Menschen unerwünschte Aufgaben – und laden sie bei anderen ab. Wie du dich dagegen wehren kannst.”

Die Zeit meta-described im April 2022:

“Strategische Inkompetenz nennt es sich, wenn Menschen sich dumm oder unfähig stellen, um andere dazu zu bringen, Sachen für sie zu tun.”

Subtile, aber wirkungsvolle Waffe in der Politik

Dass die strategische Inkompetenz in den USA bereits deutlich früher diskutiert wurde, ist dabei keine Überraschung. Schließlich ist sie ja eine der Maschen Donald Trumps. 2017 trat er sein Amt als Präsident der USA an, Googletreffer für strategic incompetence tauchen vermehrt im selben Jahr auf. (In einem Upworthy-Artikel zum neuen Trend verlinkt Jisha Joseph 2021 allerdings auf einen Artikel im Wall Street Journal, der bereits 2007 veröffentlicht wurde.)

Interessanterweise wird im englischsprachigen Raum auch oft die weaponized incompetence (bewaffnete Inkompetenz) herangezogen. Hier wird deutlich: Es ist ein aggressiver Akt, sich selbst als inkompetent zu labeln, um sich aus der Äffare zu ziehen.

Und wer zieht sich schon besser aus der Affäre als Politiker?

So benannte auch der Salon 2018 die Inkompetenz als Geheimwaffe Trumps. Im Subheader bringt der Artikel die Feinheiten auf den Punkt: “An inept president can still be an authoritarian”, ein unfähiger Präsident kann trotzdem autoritär sein. Der Guardian wiederum machte Boris Johnson zum inkompetenten Lügner mit gewissem Charme. Aber eben genau dieser Charme ist nicht süß. Er ist eine Waffe. So heisst es im Artikel von Simon Jenkins:

“The Johnson personality is clearly not to be underrated. As democracy becomes less a matter of interests and resources, it falls back on secondary responses, on making people relaxed and comfortable about the world about them.”

Kurz gesagt: Die Menschen fallen drauf rein. Auch wenn sie eigentlich wissen müssten, dass Trump, Johnson & Co. gar nicht lieb und nett sind, sondern mit Methodik vorgehen.

Ähnlich verhält es sich mit zahlreichen inkompetenten Vätern: Auch ein trotteliger Vater kann (bewusst oder unbewusst) mit Methodik vorgehen, um Geschlechterrollen zu seinen Gunsten zu festigen. Aber bei aller Liebe: Strategische Inkompetenz ist die Reproduktion patriarchaler Strukturen, die wir ja eigentlich alle auflösen wollen, oder? Und naja, diese patriarchalen Strukturen stammen eben aus der konservativen Weltsicht. Trump hat es vorgemacht. Der Weg der strukturellen Inkompetenz vom altrechten Politischen ins patriarchale Private ist nicht weit.

Strukturelle Inkompetenz im Marketing

Wir fallen also gerne mal rein auf die inkompetente und tollpatschige Art so mancher Zeitgenossen. Andererseits haben wir ja schon einen Riecher dafür, wenn wir derart an der Nase herumgeführt werden. Denn mit Schwächen authentisch umgehen ist etwas anderes, als die eigene Inkompetenz zum Vorteil zu nutzen. Die Berliner Verkehrsbetriebe gehen etwa so weit, die eigene Inkompetenz als Brand zu vermarkten.

Gerade neu getweetet am 3. Januar 2023:

“Für alle, die sich das Fitnessstudio sparen wollen: Keine Sorgen, wir haben auch dieses Jahr wieder ein paar Baustellen mit SEV für euch geplant.”

Tough Love könnte witzig sein, ist sie aber nicht. Die Werbebotschaften, die scheinbar mit ihren Schwächen auf lustige Art umgehen, sind deshalb zurecht umstritten. Im Grunde bedient sich diese Art Marketing an nichts anderem als strategischer Inkompetenz. Finden wir es etwa gut, für dumm verkauft zu werden? Hin zu echter Begegnung auf Augenhöhe haben wir jedenfalls noch einen weiten Weg. Auch Witze über den Flughafenbau, den desolaten Zustand Berlins oder der Slogan arm, aber sexy gehen in diese Richtung. Ist der desolate Zustand des Berliner ÖPNV oder eine Wahlpanne sexy? Naja. In Berlin ist es zumindest ja gleich wie zu Hause beim Geschenkeeinpacken. Der Marketing-Gag der BVG hat sich mittlerweile etabliert, und nur deshalb funktioniert er auch noch. Und gewiss ist der Ton nicht mehr ganz so rau wie noch vor ein paar Jahren. Ich wage es einmal zu behaupten – oder zu hoffen – dass derartiges Spiel im Jahr 2023 nicht mehr hinhauen würde.

Ist der Ruf erst ruiniert…?

Und dennoch, pünktlich zu Beginn des neuen Jahres springt die Deutsche Bahn auch noch auf den Zug auf und versucht es mit Marketing in der Gaslighting-Variante. Verspätet, aus der Mode gekommen - Deutsche Bahn. Frei nach dem Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.

Screenshot: Ein Post von Deutsche Bahn Konzern. Überschrift: Mama sagt, wir sollen uns nicht ärgern lassen. Comic-Bild darunter: Ein Schüler schiebt einen Spickettel zum anderen Schüler, darauf steht: Kommt erstmal pünktlich.

Aber zurück zur Augenhöhe: Wer bitteschön, möchte so mit seinem Gegenüber kommunizieren? Während die japanische Bahn damit wirbt, höchstens 9 Sekunden zu spät zu kommen, macht die Deutsche Bahn Witze auf Kosten des Service, auf Kosten der Kundschaft. Und mal abgesehen davon: Ist so ein Image erstmal aufgebaut, wird es ziemlich viel Mühe und Geld kosten, das wieder gerade zu biegen. Langfristig halte ich solche Aktionen für ganz schön unklug. Politik der verbrannten Erde in Zeiten der Unsicherheit? Wer sich jemals auch nur kurz mit Vuca auseinandergesetzt hat, der hat das vor Augen: Wir leben in einer Zeit der erhöhten Verwundbarkeit, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Dass Kund*innen sich von Unternehmen dazu noch für dumm verkaufen lassen wollen? Sicher nicht.  

Kenne deinen Feind

Sprache formt unsere Realität. Deshalb ist es mir immer ein Anliegen, Ausdrücke und Wörter, die wir benutzen, zu hinterfragen. Es ist ein Prozess, bei dem auch ich immer wieder in Fallstricke tappe. Was steht eigentlich hinter den Begriffen und Worthülsen, die uns so im Alltag über die Lippen wandern? Oft lassen sich hinter Kommunikation Glaubenssätze finden. Und diese Glaubenssätze sind nicht immer besonders schön, manche davon möchten vielleicht auch aufgelöst werden. Es gibt Verhaltensweisen oder gesellschaftliche Phänomene, für die wir noch keine Begrifflichkeiten haben. Das macht es schwer, sie zu erkennen. Und die eigentliche Debatte kann ja erst dann beginnen, wenn wir die Dinge benennen können. Dass die strategische Inkompetenz jetzt auch im deutschsprachigen Raum angekommen ist, kann nur ein Fortschritt sein. Um authentisch zu kommunizieren, müssen wir erkennen, was nicht authentisch ist. Was manipuliert, degradiert, was mit Methode Strukturen fördert, für die wir nicht einstehen. Im Großen und Ganzen ist die strukturelle Inkompetenz nur das: Sie leugnet Bedürfnisse des Gegenübers, sie lädt Last auf eine andere Person ab und verleugnet jede Verantwortung. Sie verneint die Fähigkeit, zu lernen und sich zu wandeln. Sie ist nicht nur misogyn, sondern beschneidet auch die eigenen Fähigkeiten. Unsere eigenen Kompetenzen zu beschneiden, das tut uns nicht gut. Und es kann auch unserem Marketing nicht gut tun, so mit unserer Kundschaft umzugehen. Von mir jedenfalls wird es solche Texte nicht geben. Und nun, Prost Neujahr, auf ein tolles Jahr 2023 der absoluten Kompetenzen!

Anja Mayer-Cilliers
January 26, 2023