Ich seh dir in die Augen, Kleines - Oder warum der Jeep runde Lichter hat
Vor einigen Wochen war ich mit einer Freelance-Kollegin zur Kaffeepause am Ostkreuz verabredet. Zwischen allerlei Getümmel saßen wir auf der Bank und beobachteten das bunte Treiben im Park. Wie entstehen Texte bei dir eigentlich? Ich meine, was denkst du dir eigentlich beim Schreiben? fragte sie mich, packte ihre Kekse aus und hielt mir einen vor die Nase.
Ich war an diesen Tagen gerade dabei, etwas für ein Produkt rund um das Auto zu texten. Stimmt, ist eine gute Frage! Denn tiefe Texte mit Sinn entstehen durch Rückgriff auf Kulturgeschichte – zumindest bei mir. Texte, die die Zielgruppe ansprechen? Das bleibt eine bloße Floskel, wenn wir Worte, Slogans, Copy und Content nicht in ihren Kontext einbetten. Kaffee schmeckt gut, aber zusammen mit einem Keks schmeckt er viel besser. Und so ist es auch beim Texten. Trends sind natürlich immer total wichtig. Beim Texten setze ich aber auch die kulturgeschichtliche Brille auf. Fresh, deep und effektiv meint eben genau das: Auch beim Kaffeebaum sind es die guten und tiefen Wurzeln, die die köstlichsten Bohnen hervorzaubern.
Marketing und Kultur gehören zusammen wie Kaffee und Kekse
Aber zurück zum Auto und meinem Text über das Auto-Lifestyle-Produkt. Über das Auto wurde schon viel geschrieben und viel gesagt. In der Technikgeschichte bezeichnet man das Auto als ein Artefakt – so wie alle anderen, von Menschenhand gemachten Produkte. Artefakte sind etwa Rasierapparate, Waschmaschinen oder das Gerät, mit dem du gerade diesen Blogpost liest.
Das Artefakt Auto ist bis heute Gegenstand politischer Diskussionen, wesentlicher Träger der deutschen Wirtschaft und vor allem ermöglicht es uns, mobil zu sein. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Diskurs ums Auto – und ums autofreie Leben – derweil auch hitzig wird. Allein, wie viele Menschen bestreiten in den Autowerken alltäglich ihren Lebensunterhalt? Achtung! So viele, wie wir denken, sind es gar nicht: Lediglich etwa 700.000 Menschen in Deutschland sind in der Automobilindustrie beschäftigt. Trotzdem bestimmt das Auto unser Leben – sei es beim täglichen Weg zum Einkaufen und zur Arbeit, bei coolen Roadtrips und im hippen Vanlife.
Oder wenn wir mit dem Fahrrad zum Ostkreuz fahren und wieder einmal vom Seitenspiegel eines vorbeirauschenden Autos gestreift werden.
All das ist relevant, wenn ich einen Text über ein Lifestyleprodukt rund um Autos schreibe. Das Auto an sich ist ja nicht gut oder schlecht. Es ist ein Artefakt. Oder ein Tool, wie man neudeutsch vielleicht sagen würde.
Das Auto und der Kultur-Code
Aber da gibt es noch so viel mehr, was da in Sekundenschnelle durch meinen Kopf braust, wenn ich meine ersten Ideen ganz klassisch mit Stift auf Papier pitche. War es nicht der Kultur-Code, der wegweisend ist für gelungenes Marketing? Das jedenfalls behauptet Clotaire Rapaille, der berühmte französische Marketing Consultant. Er hat in ausführlichen Interviews weltweit untersucht, welche Gefühle, Erinnerungen und Lebenswelten die Menschen zu den Produkten, die sie umgeben, verbinden.
So beschreibt Rapaille in seinem Buch Der Kultur-Code, wie das Unternehmen Nestlé erfolgreich Kaffee als Heißgetränk in Japan etablierte. Denn viel Umsatz machte man mit Kaffee in Japan bisher nicht.
Rapaille ging also auf die Suche: Was verbinden die Menschen mit Kaffee – dort, wo viel Kaffee getrunken wird? In den USA verbinden die meisten Menschen den Kaffeegenuss mit der Geborgenheit der Kindheit: Die gemütliche, nach Kaffee duftende Küche. Weil sie sich diese Emotionen zurückholen wollen, trinken die US-Amerikaner*innen auch als Erwachsene Kaffee.
In Japan gab es diese Kaffee-Kindheit-Verknüpfung nicht.
Nestlé zäumte nun das Pferd von der anderen Seite auf. Es ging nun nicht darum, die Erwachsenen von der Köstlichkeit des Kaffees zu überzeugen. Die Kinder und ihre wunderbaren Kindheitserinnerungen waren der Schlüssel zum Kaffeekonsum in Japan.
Der Gedankenblitz: KitKats für Kinder mit Kaffeegeschmack! Der gelungene Start für Kaffeekonsum im Erwachsenenalter ging also über das Ködern mit Keksen. Der Plan ging auf: Japan ist heute Kaffeetrinkerland. Und ganz nebenbei entstand um die KitKats ein Kult.
Ethisch fragwürdig finde ich die Sache ja schon. Ein ganzes Land bewusst koffeinabhängig machen, um des Profits willen? Und man könnte auch fragen: Wurde Japan wirklich Kaffeetrinkerland wegen der leckeren KitKats, die Nestlé einführte – oder weil der US-amerikanische Lifestyle durch zunehmende Globalisierung mehr Einzug gefunden hat?
Und welche Milch kommt in den Kaffee? Auch Ethik gehört zu Marketing
Clotaire Rapaille hat mit seiner Methode nicht das Rad neu erfunden. Er hat vielmehr sein Wissen aus der Psychoanalyse genutzt, um sie ins Marketing einzuflechten. Seine großangelegten Studien zeigen vor allem eins: Kenne deine Zielgruppe! Denn starke Emotionen bringen Menschen dazu, bestimmte Dinge zu tun.
Auch in der Soziologie ist es altbekannt, dass der soziokulturelle Code das Verhalten der Menschen beeinflusst. Der Kulturwissenschaftler Umberto Eco (Autor von Die Name der Rose) hat den Begriff beispielsweise wesentlich geprägt. Aber man muss eigentlich keine Kulturwissenschaftlerin oder Historikerin sein, um gutes Marketing zu machen. Ich wage einmal zu behaupten, dass eigentlich alle Marketing-Menschen es täglich mit dem kulturellen Code zu tun haben. Als Historikerin mit Faible für Technikgeschichte sind mir die kulturellen Codes vieler Artefakte nur etwas geläufiger. Ich habe diese Brille quasi immer griffbereit. Aber damit ist der Keks noch nicht ganz aufgegessen.
Denn in all unseren Überlegungen zum Auto kam ja auch die ethische Perspektive ins Spiel.
Ist es denn eigentlich ok, psychologisches Wissen über das Menschsein auf Marketing zu übertragen? Ist es denn ok, Kultur auf Konsum zu übertragen? Und wenn man das möchte, wie macht man es gut? An welchem Punkt gibt es da eine Grenze?
Und zuletzt das Auto – kann man das angesichts der Klimakrise überhaupt noch vermarkten? Das sind Fragen, die gelebt werden müssen im Marketing- und Texter*innenalltag. Fragen, für die es keine pauschale Antworten gibt. Und so habe ich als geisteswissenschaftliche Texterin eine weitere, ethische Ebene, die ich beim Texten für Auto-Lifestyle berücksichtige.
Wenn ich texte, hole ich also erstmal die Kulturbrille raus, dann die Ethikbrille.
Es ist wie beim Kaffee. Es ist nie einfach nur Kaffee. Man kann ihn schwarz trinken. Und mit Keksen ist er schonmal besser. Mittlerweile ist es ja schon kulturelle Praxis, dass ich in der Bäckerei gefragt werde: Soll normale Milch, Hafermilch oder Sojamilch in meinen Kaffee? Zumindest im hippen Friedrichshain.
Marketing, Mobilität und wilde Freiheit
Wie steht es also um das Auto? Natürlich gibt es auch hier einen kulturellen Code, mit dem wir das Auto besetzen. Und zufällig hat sich auch Clotaire Rapaille mit dem Auto und seiner Emotions- und Wertewelt beschäftigt.
So fand er heraus, welche Bilder die US-Amerikaner*innen mit dem Wrangler Jeep verbinden: Freiheit, Querfeldeinfahren, weite Prärie. Das war nun gar nicht das, wie Wrangler seinen Jeep gerade erst erneuert hatte: In direkter Konkurrenz zu den neu aufkommenden, schicken und bequemen SUVs hatte man versucht, dem Jeep mehr SUV-Eigenschaften zu geben. Der Jeep in komfortabel und elegant? Kein Wunder, dass das nicht funktionierte. Denn die wilde Prärie ist nichts für feine Menschen mit weißen Samthandschuhen. Die amerikanische Wildnis ist rough und unbequem. Mit dem Wrangler Jeep wollen wir uns fühlen, als reiten wir auf einem robusten Mustang durch die weiten Landschaften. Ganz im Sinne des amerikanischen (und gewiss problematischen!) Frontier-Mythos. Rapailles Code für die Amerikaner*innen und ihr Jeep: Pferd.
Nun lag es an Wrangler, dem Jeep wieder die wilde Kraft des Pferdes einzuhauchen. Statt der eleganten quadratischen Lichter gab es wieder die ikonischen runden Lichter – schließlich erinnern die runden Lichter an die Augen der Pferde.
Natürlich lassen sich nun Schlüsse folgern für das Marketing anderer Autos, für Marketing und Mobilität allgemein. Dass Pferde etwa eng mit Mobilität und Freiheit verknüpft werden, ist sicherlich kein rein US-amerikanisches Phänomen. Ich jedenfalls reite sehr gerne auf meinem treuen Fahrrad-Pferd durch die wilden Straßen Berlins.
Texten: Kontext, Emotionen und Werte
Gelungenes Marketing geht über Benefit und Feature hinaus – Kultur ist immer ein Konzept, das mitgedacht werden muss. Denn ganz so einfach mit der Übertragung des Kultur-Codes – auf andere Länder, auf andere Artefakte – ist es dennoch nicht.
So hat auch Wrangler den Jeep in Deutschland etwa ganz anders vermarktet. Für die Deutschen ist es nicht so sehr die wilde Prärie, die einschneidend mit der Identität verknüpft ist. Mit dem Jeep der amerikanischen Soldat*innen verbinden die Deutschen die Befreiung vom Nationalsozialismus. Das jedenfalls fand Rapaille heraus. Jeep-Werbung in Deutschland stellte also fortan vor allem die geschichtliche Entwicklung des ikonischen Geländefahrzeugs in den Vordergrund – und war so erfolgreicher denn je.
Kultur ist fürs Marketing ein elementarer Baustein. Und das gilt natürlich auch fürs Texten.
Welchen Einfluss einzelne Wörter etwa haben, sehen wir an der deutschen Übersetzung von Casablanca. Humphrey Bogarts berühmte letzte Worte – Ich seh dir in die Augen, Kleines. Eine Übersetzung, der man unter anderem vorwarf, eine Fehlübersetzung zu sein. Denn was Bogart zum Abschied wirklich sagte, war ein Trinkspruch, der sich durch die ganze Story zieht: Here’s looking at you. Das machte für die Deutschen nun besonders zum Abschied überhaupt keinen Sinn. Wo bleibt da die Romantik, würde Bogart zum Abschied ein Prösterchen raunen? Der Übersetzer wählte stattdessen Ich seh dir in die Augen, Kleines – und erschaffte eine der meistgekannten Quotes in Deutschland.
Marketing und Text hat immer auch mit Lebensrealitäten – also mit Kontext – zu tun.
Kultur, Ethik und Kontext – Lesende sehen sie zwar nicht unbedingt, aber sie spielen immer eine Rolle. Auch deshalb werden Webseiten beispielsweise in der Regel besser nicht einfach übersetzt, sondern für jede Sprache neu getextet.
Und ich? Ich habe mich inzwischen von meiner Kollegin verabschiedet und mich in den Sattel geschwungen – an der romantischen Rummelsburger Bucht radel ich in den Sonnenuntergang.