Aufschwung: Wahlwerbespots im Fernsehen
Das Fernsehbild flimmert. Der CDU-Wahlwerbespot verspricht:
1. Größtmögliche Reform
2. Gemeinsamer Markt
3. Verhandlungen
4. stabil
5. Zusammenarbeit
Keine Experimente.
Wie passt das eigentlich zusammen? Keine Experimente in einer Zeit des Aufschwungs?
Das viel gepriesene "Wirtschaftswunder" war in der Tat für viele Menschen mehr politisches Gerede denn Realität: Armut war weit verbreitet; Fernsehgeräte etwa zogen in redenswerter Masse erst im Laufe der 1960er in deutsche Wohnzimmer ein.
Wir haben in den 1950ern eine gewiss spannende Zeit vor uns ausgebreitet: Die Nachkriegszeit, die Teilung Deutschlands und der Einfluss der USA auf westdeutsche Entwicklungen. Freilich wollte man in dieser Konstellation vor allem Stabilität, die man sich durch das Ja zur NATO versprach. Gleichzeitig waren die 1950er geprägt von wirtschaftlichem Aufschung und dem Glauben an Zukunft und technischen Fortschritt.
Fortschritt und Verdrängung
Nach dem Trauma des Zweiten Weltkrieges übte sich sie westdeutsche Gesellschaft daran, breitgefächert in der Verdrängung zu bleiben, während sie sich gleichzeitig dazu zwang, nach Vorne zu blicken. Man machte auch vor der Hybris nicht halt, zu meinen, der "Krieg gegen Krankheiten" sei gewonnen (Antibiotika machten das seit den 1940ern denkbar).
Freilich war die neue Bundesrepublik dann auch Experimenten gegenüber nicht ganz so scheu eingestellt, wie man hätte meinen können.
Contergan etwa, das im selben Jahr auf den deutschen Markt kam wie der Experimente-Spruch der CDU: Die Herstellung und Vermarktung war ein einziges unreguliertes Freispiel. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade in Zeiten des Aufschwungs Massen an "hysterischen" Frauen ruhig gestellt werden mussten. Die Mischerlichs haben es damals festgestellt und von der Unfähigkeit der Deutschen, zu trauern gesprochen. Die Verdängung der Trauer hat ihre Folgen, und das können wir heute noch spüren. Es war natürlich einfacher, Frauen die bittere Pille schlucken zu lassen, als gesamtgesellschaftlich wirklich Verantwortung zu übernehmen.
Und heute?
Es ist fast schon ironisch, dass die Erzählung über die Verdrängung der Vergangenheit sich so eingeprägt hat in die Geschichtserzählung, wir aber gleichzeitig bis heute daran festgehalten haben, dass (West-)Deutschland seine Vergangenheit vorbildlich aufgearbeitet haben soll.
Ich habe heute vor allem die Sorge, dass wir es immernoch nicht gelernt haben, mit gesellschaftlichem Trauma ordentlich umzugehen. Die Corona-Pandemie zeigt es ja auch. Scheinbar vergessen sind die Zeiten des Lockdowns für die Mehrheit, während es immernoch Risikogruppen, Schattenfamilien und Long-Covid-Patienten gibt. Auf der anderen Seite ist das Wörtchen Aufarbeitung nun vor allem in die Hände der Querdenker geraten, die die Rechtfertigung der Pandemiemaßnahmen im Nachhinein prüfen lassen wollen.
Dazwischen gibt es die Grautöne: Für fast jeden Einzelnen von uns war die Pandemie ein gehöriger Einschlag ins Leben. Und ziemlich viele von uns tragen Teile des Traumas noch mit.
Der Geruch von Desinfektionsmittel.
Mit Handschlag begrüßen: Ja oder Nein?
Wir haben festgestellt: Wir sitzen nicht alle in einem Boot. Manche chillen auf der Luxusyacht, manche im aufblasbaren Rettungsboot.
Einsamkeit.
Das Husten in der U-Bahn.
Manche haben endlich ihren Job gekündigt.
Manche sind seitdem arbeitslos.
Familien sind durch Hass und Hetze der Querdenker zerbrochen.
Die Schrecken des Lebens zu integrieren - letzten Endes geht es hier um unseren Umgang mit Krankheit und Tod.
Das ist eine Aufgabe, die wir noch nicht erfüllt haben.
Und damit ist eigentlich auch jeder Aufschwung ein bisschen fake.